FilmViewing – Filmmaking Kits – Tagebuch der Orte
Filmen mit mobilen Geräten
„Tagebuch der Orte“ ist ein Übungsvorschlag, der gezielt dafür entwickelt wurde, die Entdeckung des Kinos als eine Art des Schauens und der Wahrnehmung unserer alltäglichen Umwelt zu fördern. Er wurde als erste Erfahrung und Einführung entwickelt. Wir werden unsere ersten Schritte im Kino machen, die zu unserem Begleiter im alltäglichen Leben werden und wir werden lernen, es selbst zu erschaffen: mit uns leicht zugänglichen Werkzeugen wie Smartphones oder den eigenen Fotokameras.
Die Mehrzahl der Schüler*innen wird die Welt zum ersten Mal filmen. Vielleicht haben sie schon mal mit ihren Smartphones gefilmt, aber wahrscheinlich haben sie dabei nicht auf die Kriterien geachtet, die wir ihnen nun vorschlagen werden: die Verwandlung des Lichts zu beobachten, die Aussicht aus dem Fenster zu beobachten, den Himmel einzurahmen, eine lange Einstellung zu halten.
Sehr zutreffende Worte von David Perlov aus seinem Tagebuch weisen uns den Weg in dieser Einführung: „Ich will mich dem Alltäglichen nähern. Es braucht Zeit, zu lernen, wie man das macht.“ Wir begeben uns auf eine leidenschaftliche Reise voller Entdeckungen! Zusammen mit Perlov und anderen Filmemacher*innen, Fotograf*innen und Maler*innen werden wir das Kino in seinem eindrucksvollsten Sinne entdecken: Seine Fähigkeit, die Welt einzurahmen, den Rausch der unendlichen Möglichkeiten, das Staunen und Vertrauen ins Kino und in die Welt, wenn wir aufmerksam hinschauen.
ENTWICKLUNG
Präambel
Bevor wir richtig mit der filmischen Übung beginnen, wäre es interessant, einen Moment innezuhalten und nachzudenken über die Umgebung, in der wir leben. Wir können damit anfangen, uns daran zu erinnern, was wir sehen, wenn wir aus dem Fenster schauen – morgens beim Aufstehen oder abends, wenn wir uns Schlafen legen. Welche Räume, Orte, Straßen, Wege, Gebäude und Landschaften wir auf dem Schulweg oder einem Spaziergang sehen. Es wäre schön, einige Texte in unsere Hefte zu schreiben und sie mit der Gruppe zu teilen.
Analyse von Filmausschnitten
Die vorgeschlagenen Filmausschnitte könnten für viele die erste Begegnung mit dieser Art Kino darstellen. Manchen mögen sie seltsam vorkommen, da sie niemals zuvor etwas solches gesehen haben und es ganz und gar nicht ihren filmischen und audiovisuellen Gewohnheiten entspricht. Aber es ist genau dieses Zeigen des Nahen und Alltäglichen, was dieses Kino so ansprechend für uns macht, unsere Wahrnehmung erhöht und uns ermutigt, unsere Augen zu öffnen und die Welt, die uns umgibt, aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen.
Das visuelle Material wird uns mit Ideen, Bezügen und Inspirationsquellen versorgen und uns neue kreative Möglichkeiten eröffnen und die Leidenschaft wecken, unsere eigenen Einstellungen zu drehen… Lasst uns die Filmausschnitte aufmerksam und interessiert anschauen und uns fragen, welche filmischen Entscheidungen getroffen wurden und in eine Konversation mit den Filmen von Filmemacher*innen als echte Filmemacher*innen begeben.
Wir schlagen vor, mit David Perlovs Tagebuch zu beginnen und dann Ausschnitte zu wählen, die am besten zu unserer Umwelt passen (z.B. ländliche oder städtische Gegenden) und welche unserem Ziel dienen, die Sensibilität für das Licht als ausdrucksvollen Wert zu erhöhen.
Dreharbeiten
Wir schlagen vor, die Übung in zwei Phasen zu entwickeln: Zuerst in einer Gruppe, wobei sich die Schüler*innen mit Hilfe eines*r Lehrer*in und/oder eines*r Filmemacher*in auf die Aufnahme bzw. den Dreh einigen. Anschließend überlegt jede*r Schüler*in an seinem*ihrem Platz, wobei wir auf die jeweilige individuelle Wahrnehmung und Sensibilität aufbauen.
Wenn es in unserer Schule möglich ist, schlagen wir vor, durch das Fenster zu filmen, wobei wir uns auf David Perlovs Tagebuch beziehen. Wir müssen ein Fenster finden, das eine ausreichend weite Aussicht bietet und das uns erlaubt, einen großen Teil des Himmels in unserem Bildausschnitt einzufangen, usw. (Daher ist es empfehlenswert, Fenster auf Bodenhöhe zu vermeiden oder Fenster, aus denen wir nur eine Gebäudewand oder Dinge, die zu nah sind, sehen können; ebenso wenig geeignet sind vergitterte Fenster).
Wir könnten im Umfeld der Schule mit dem Drehen beginnen und zu einem nahe gelegenen Ort gehen, der eine weite Aussicht bietet (wie zum Beispiel an einem leicht erhöht gelegenen Ort). Es wäre interessant, den Weg zum Zielort zu nutzen, um unsere Umwelt genau zu betrachten, und dabei auf die Änderungen des Lichts, des Himmels und der Räume zu achten. Wir fangen damit an, durch die Augen eines*r Filmemacher*in auf unsere Nachbarschaft oder Stadt zu blicken.
Wenn gedreht wird, hält nur ein*e Schüler*in die Kamera in der Hand, aber die Entscheidungen werden zusammen gefällt. Es ist wichtig, sich in Ruhe umzuschauen, verschiedene Möglichkeiten für den Bildausschnitt zu finden und alle Elemente (Himmel, Gebäude, Bäume, etc.) sorgsam zu beachten. Wir werden das Licht sorgfältig untersuchen, ob z.B. Sonnenlicht eine bestimme Wand oder Baumkrone erleuchtet. Wir werden zudem mögliche Veränderungen in unserer Einstellung abschätzen (durch Verkehr, Vögel, Wolken, Wind, usw.). Nachdem wir alles beobachtet haben, werden wir den Bildausschnitt festlegen, indem wir uns bewegen und nach „einer Einstellung suchen“. Wir probieren verschiedene Möglichkeiten aus und konzentrieren uns auf die vier Begrenzungen des Bildausschnitts. Die Gegenwart des Himmels ist für das „Tagebuch der Orte“ von essenzieller Bedeutung: Er sollte einen großen Teil des Bildausschnitts einnehmen. Die Rolle des*r Lehrer*in ist es, den Prozess zu begleiten und sicherzustellen, dass die Bedingungen es uns erlauben, ein möglichst starkes und reichhaltiges Ergebnis zu erzielen.
Unsere Einstellungen sollten nicht kürzer als eine Minute sein und während dieser Zeitspanne sollten wir besonders aufmerksam darauf achten, was in der Einstellung passiert. Wir müssen uns verständigen, wann es Zeit ist aufzuhören, wobei die Einstellung nicht zu kurz werden sollte. Wir sollten die Aufnahme zum Beispiel nicht beenden, während ein Vogel in der Mitte des Bildes ist oder während wir Glockenschläge hören.
Es ist sehr wichtig, einen gewissen Plan zu erstellen, bevor wir mit dem Filmen beginnen. Ein Mitglied des Teams gibt Anweisungen:
1.) „Sind alle bereit?“
2.) Wenn alle bereit sind, gibt er*sie Anweisungen, mit dem Filmen zu beginnen, in dem er*sie
deutlich „Kamera?“ sagt.
3.) Dann sollte der*die Schüler*in an der Kamera „Kamera läuft!“ sagen, sobald er*sie mit dem
Filmen angefangen hat. Falls wir es hinterher nicht rausschneiden können, kann das Signal auch
davor gegeben werden, um es nicht in der Aufnahme zu hören.
4.) Wenn wir einander ansehen und entscheiden, dass wir die Aufnahme beenden wollen, sollte die
Anweisung gebende Person den Rücken des*der filmenden Schüler*in berühren und damit
mitteilen, dass es Zeit ist, den Dreh zu beenden. Der finale Ausspruch lautet: „Schnitt!“.
Zum Abschluss des Drehs wertschätzen wir ihn mit Applaus und besprechen später, was uns an der Einstellung gefallen hat, ob etwas Besonderes passiert ist, was uns überrascht hat, usw.
Das „erste Mal“ ist von besonderer Bedeutung, da es in gewisser Weise das Fundament legt und Einfluss auf das zukünftige Vorgehen der Schüler*innen hat, wenn sie unabhängig und für sich selbst filmen.
Was wir filmen
- Weite Flächen mit ausrechend Tiefe: Sie helfen uns, die Welt zu entdecken und in die Ferne zu schauen. Wir sollten Elemente vermeiden, die in den Vordergrund eindringen und uns generell nicht auf ein einzelnes Element konzentrieren. Es ist ein „Tagebuch der Orte“ und daher sollte das Hauptaugenmerk auf dem Raum selbst liegen und nicht auf den einzelnen Elementen, die sich in dem Raum befinden (eine Bank, ein Haus, usw.).
- Der Himmel wird eine wichtige Rolle spielen und einen bedeutsamen Teil des Bildausschnitts ausfüllen.
- Das Licht ist beim Filmen einer unserer größten Impulse: Wir werden es beobachten, zu unterschiedlichen Momenten des Tages erkunden, nach einer magischen und einer blauen Stunde suchen und auf den Sonnenauf- und Untergang warten. Wir werden zu besonderen Tageszeiten filmen.
- Die Wetterbedingungen sind eine filmische Bereicherung, weshalb wir regnerischen, verschneiten, nebligen Tagen usw. ein besonderes Augenmerk schenken werden.
- Die Naturelemente (Bäume, Felder, Parks usw.) sind besonders atmosphärisch, sowohl in der Stadt als auch auf dem Land.
Wie wir filmen
- Der Bildausschnitt solle immer horizontal sein, schließlich ist es das kinematografische Format! (Stellt Euch vor, wie unsere Einstellung auf der Kinoleinwand aussieht!)
- Wir werden statische Einstellungen filmen, ohne den Bildausschnitt während der gesamten Einstellung zu bewegen. Wir sollten versuchen, unsere Einstellungen fixiert zu halten und als Stativ fungieren. Wenn wir beim Filmen feststellen, dass es schön wäre, eine Einstellung neu auszurichten, wenn zum Beispiel ein Vogel durch unsere Einstellung fliegt, sollten wir dies mit einer langsamen und behutsamen Bewegung tun. Wenn wir die Einstellung neu ausgerichtet haben, versuchen wir sie recht lange zu halten.
- Wir filmen mit einer Weitwinkel- oder mittleren Linse (niemals mit einem Teleobjektiv oder aktivem Hereinzoomen). Eine Weitwinkellinse öffnet den Raum und schafft ein weites Blickfeld, während ein Teleobjektiv den Raum verflacht und das Gefühl eines geschlossenen Raums erzeugt, was das Gegenteil von dem ist, was wir in dieser Übung erreichen wollen. Wir sollten die Linse (den Zoom) niemals während unserer Aufnahme berühren.
- Dauer: Wir werden lange Einstellungen Wir sollten den kleinen Dingen, die während unserer Einstellung geschehen, Zeit geben. (Wenn beispielsweise ein Vogel durch die Einstellung fliegt, warten wir lang genug, nachdem er das Bild wieder verlassen hat, bevor wir die Aufnahme beenden). Wir filmen ungefähr eine Minute, aber das bedeutet nicht, dass wir uns eine Stoppuhr stellen und auf keinen Fall, dass wir nach genau 60 Sekunden die Aufnahme beenden. Stattdessen sollten wir während des Drehs aufmerksam beobachten und uns abhängig von dem, was in der Einstellung geschieht, entscheiden, wann wir aufhören.
- Der Wert des Tons: Auch er verdient viel Aufmerksamkeit. Wir finden heraus, wo das Mikrofon der Kamera oder des Smartphones ist und versuchen, es während der Aufnahme nicht zu berühren, um so den bestmöglichen Ton aufzunehmen.
Es wäre interessant, die Kriterien zusammen mit der Gruppe von Schüler*innen zu entwickeln, wobei wir uns ständig auf das beziehen, was wir in den Filmausschnitten gesehen haben.
„Tagebücher der Orte“ von Schüler*innen jenseits der Schulstunden
Wenn wir den Schüler*innen vorschlagen, außerhalb der Schule, an ihren eigenen Orten zu filmen, wäre es nützlich, im Vorfeld eine Liste möglicher Einstellungen zusammenzutragen und die Ideen anhand der folgenden Fragen abzuklopfen:
Wie ist der Raum beschaffen?
Von wo aus filmen wir?
Zu welcher Zeit? Wie ist zu dieser Zeit das Licht beschaffen?
Welchen Teil des Himmels wird man sehen können?
Wir sollten die Ideen feiern und den Enthusiasmus für das Filmen ermutigen. Der ansteckende Enthusiasmus für das Filmen wird für den Prozess von essenzieller Bedeutung sein.
Schnitt
Wenn es die Möglichkeit gibt, es zu organisieren, wäre es interessant, die gefilmten Aufnahmen zu schneiden. Wenn wir dies tun, erhalten die Aufnahmen die Eigenschaften eines winzigen Films.
In der Regel werden wir die Aufnahmen so schneiden, dass zu Beginn eine Texttafel eingefügt wird, auf der wir die Aufnahme verorten und zeitlich platzieren. Zum Beispiel „Barcelona, 10. Oktober 2020. Sonnenuntergang.“ Oder „Barcelona, 10. Oktober 2020. Es ist 22 Uhr.“ Oder „Barcelona, 10. Oktober 2020. Ich filme die Aussicht aus meinem Fenster zu Hause, es ist 22 Uhr.“
Der Text sollte stets zu Beginn vor der Einstellung stehen und als Eröffnung fungieren. Der Text sollte weiß auf schwarzem Hintergrund sein, in einer diskreten Font-Größe und ohne zusätzliche Effekte. Am Ende fügen wir einen Nachspann ein, der den Namen des*der Autoren*in und der Schule und das Schuljahr beinhalten.
Beim Schnitt werden wir erneut in der Lage sein, zu entscheiden, wie lang die Einstellung sein soll und wann wir anfangen und aufhören.
Sehen, Präsentationen und Kommentare zu den Dreharbeiten
Es wäre interessant, wenn jedes Team seine Übung ihren Mitschüler*innen präsentieren könnte und die Entscheidungen, Entdeckungen, Herausforderungen und Schwierigkeiten erklären würde. Dies ist ein sehr wichtiger Moment, da er dabei hilft, neue Fertigkeiten und neues Vokabular zu verinnerlichen.
Wenn die Schüler*innen anfangen, einzeln zu filmen, wäre es ebenso wichtig und wertvoll, die Zeit zu finden, ihre Aufnahmen zu teilen, zu kommentieren und wertzuschätzen.
ORGANISATORISCHE ASPEKTE, DIE BEIM DREH BEACHTET WERDEN SOLLTEN
Bei gemeinsamen Dreharbeiten arbeiten wir in Teams mit jeweils 4 bis 6 Schüler*innen.
Wir schätzen, dass das Drehen der ersten Aufnahme zwischen einer Stunde und 90 Minuten in Anspruch nehmen wird.
Wir werden in jedem Team nur eine Kamera benutzen und versuchen sicherzugehen, dass alle Schüler*innen aktiv bei der Vorbereitung des Drehs teilhaben.
Während des Drehs sollten wir immer hinter der Kamera bleiben.
Während des Drehs werden wir völlig still bleiben, da wir mit den Geräuschen der gefilmten Umgebung arbeiten werden. Bevor wir mit dem Dreh beginnen, einigen wir uns auf einen besonderen Code an Gesten für den Fall, dass wir während des Drehs miteinander kommunizieren müssen, zum Beispiel, wenn wir anderen mitteilen wollen, dass etwas Filmenswertes (beispielsweise Vögel, ein Passant oder ein herannahender Zug) in den Bildausschnitt kommt und um einander Entscheidungen bezüglich des Weiterdrehens oder Aufhörens zu kommunizieren.
Es wäre interessant, wenn wir uns nach dem Drehschluss noch ein wenig Zeit nehmen, um aufzuschreiben, was wir gelernt haben (wir könnten eine Liste mit „Entdeckungen“ anlegen) und unsere Erfahrungen mit dem Rest der Gruppe zu besprechen.
NOTWENDIGE MATERIALIEN UND AUSRÜSTUNG
Eine Videokamera oder ein Fotoapparat mit Videomodus, für das Filmen in Teams.
Zu Hause Foto- oder Videokameras oder Handys für die Schüler*innen, damit sie außerhalb der Schule filmen können. Falls wir uns dafür entscheiden, die Aufnahmen zu schneiden, bräuchten wir einen Computer mit Videobearbeitungssoftware. Eine interessante Möglichkeit wäre Kdenlive, ein open-source-Programm.
EINIGE FILMISCHE REFERENZEN
Diary 1973-1983 / Tagebuch 1973-1983, von David Perlov (Israel, Großbritannien, 1973-1983)
1973 kauft David Perlov, israelischer Filmemacher mit brasilianischen Wurzeln, eine 16-mm-Kamera (viel leichter als die professionellen 35-mm-Kameras), lässt die Spielfilme, Dokumentarfilme und institutionellen Projekte hinter sich und beschließt, „bei Null anzufangen“. 10 Jahre lang filmt er sein Zuhause, seine Nachbarschaft, seine Stadt (Tel Aviv), seine Zwillingstöchter, seine Frau, seine Freunde, Reisen nach Paris, Rio de Janeiro, London oder São Paulo, Arbeiten seiner Filmstudenten, Übertragungen aus den laufenden Kriegen Israels und Antikriegsproteste. 5 weitere Jahre lang schneidet er das Material.
Der fertige Film hat sechs Kapitel zu je 55 Minuten und ist unterbrochen durch Zeichen und durch Voice-Over, in denen der Filmemacher über das reife Alter und die Erinnerung, das Kino und die Weitergabe des Kinos, kleine und große Dinge, Entdeckungen und Enttäuschungen, Schmerz und Ohnmacht angesichts von Politik und Krieg, glückliche Erinnerungen und gegenwärtige Momente, Freundschaft und das Leben, wie es ist, reflektiert.
Dieser Filmausschnitt ist aus dem Beginn des ersten Tagebuchs, er verrät uns seine Absichten und Prinzipien: ‚Mai 1973. Ich kaufe eine Kamera. Ich will anfangen, selbst und für mich zu filmen. Das professionelle Kino hat aufgehört, mich zu interessieren; ich suche nach etwas anderem. Ich möchte mich dem Alltäglichen nähern. Vor allem anonym. Es braucht Zeit, um zu lernen, wie man das macht.‘
Um zu beginnen, „für mich selbst“ zu filmen und „zu lernen, wie man es macht“, filmt er durch das Fenster seines Hauses. Perlov fängt an, die Welt um ihn herum in verschiedenen Momenten des Tages und in verschiedenen Ausschnitten zu filmen.
Ein Fenster ist ein privilegierter Raum, um zu filmen und darüber nachzudenken, wie man filmt: Es ist ein Rahmen in sich selbst, ein Rahmen der Welt um ihn herum, den der Filmemacher auch kontinuierlich einrahmt. Die drei ersten Einstellungen sind sehr unterschiedlich und wir sollten sie genau analysieren: Welche Position hat der Filmemacher gewählt? Welchen Platz nimmt das Fenster in der Rahmung ein? Wie filmt er die Welt durch das Fenster?
Dieses und andere Fenster prägen den ganzen Film. Er filmt durch das Fenster zu verschiedenen Momenten des Tages und über viele Tage hinweg, an sonnigen und regnerischen Tagen, bei Nacht und bei Sonnenuntergang. Wir könnten dem Beispiel von Perlov folgen und die Transformationen desselben Raumes in unserer Umgebung bei unterschiedlichen Wetterbedingungen und Lichtverhältnissen erforschen.
Es wäre interessant, sich auf die Zeichen zu konzentrieren und auf den Text, den Tonfall, sowie den Rhythmus seiner Stimme. Die von Perlov ausgesprochenen Worte geben uns einen Schlüssel zum Verständnis dessen, was wir bei unserer Einführung ins Kino anstreben.
El sol del membrillo / Das Licht des Quittenbaums, von Víctor Erice (Spanien, 1992)
Nach seinen beiden Spielfilmen Der Geist des Bienenstocks (El espíritu de la colmena, 1973) und Der Süden (El Sur, 1983) schafft Víctor Erice Das Licht des Quittenbaums: ein Porträt des Malers Antonio López und seines Schaffensprozesses. Der Maler versucht, das Licht und den Lauf der Zeit auf einem Quittenbaum, der in seinem Garten wächst, einzufangen. Erice folgt ihm bei dieser fast unmöglichen Suche zwei Monate lang und schafft so ein Porträt über den Lauf der Stunden und der Jahreszeiten.
Bei verschiedenen Gelegenheiten zeichnen Erices Aufnahmen die Wege zwischen dem Garten des Malers, der Nachbarschaft und den Ansichten der Stadt Madrid zu unterschiedlichen Tageszeiten nach.
In diesem Ausschnitt sehen wir, wie die Nacht hereinbricht, während Antonio López und sein Freund Enrique Gran sich unterhalten. Erice stellt den Lauf der Zeit mit Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven auf die Stadt dar.
Es wäre interessant zu erraten, wie lange diese Aufnahmen ursprünglich (vor dem Schnitt der Sequenz) gedauert haben und die Geräusche zu evozieren, die wir hören würden, wenn die Musik nicht hinzugefügt worden wäre. Wir könnten auch überlegen, welche ähnlichen Aufnahmen wie die von Erice wir in unserer Stadt oder unserem Dorf drehen könnten und wo wir sie zu verschiedenen Tageszeiten drehen möchten.
Landstück, von Volker Koepp (Deutschland, 2016)
Volker Koepp ist ein Filmemacher, der sich für die Lebenswege und Wechselwirkungen zwischen persönlichen Geschichten und kollektiven Landschaften interessiert.
Seinen Film beschreibt er wie folgt: „In dem Film Landstück begegne ich Einheimischen und Zugezogenen. Es sind Landwirte, Umweltschützer und Dorfbewohner, die von ihren Lebensvorstellungen, Sehnsüchten, Sorgen und Visionen erzählen. Sie alle fühlen sich eng verbunden mit ihrer Landschaft, die es bald so nicht mehr geben wird. Der Umbau hat bereits stattgefunden. Manche Landstücke wirken wie Teile eines großen Industriegeländes: Monokulturen, Biogasanlagen, Windräder, Tiermastanlagen.“
Dieser Filmausschnitt ist die Anfangssequenz des Films. In Bezug auf den Vorschlag „Tagebücher der Orte“ sind wir besonders an der ersten der Aufnahmen (vor dem Titel) und an der Nachtaufnahme interessiert.
Die erste sieht fast wie ein animiertes Gemälde aus. Es ist sehr schön, die Präzision der Rahmung zu beobachten: der kleine Baum in voller weißer Blüte an der linken Grenze; und an der rechten Grenze ein Hang eines Hügels, der sich hinter den grünen Feldern des Protagonisten abzeichnet. Ebenso schön ist die sanfte Bewegung der Schatten der Wolken auf dem Gras. Es wäre sehr interessant zu bemerken, dass der Filmemacher in der Rahmung genug Platz für den Himmel gelassen hat, was den Wolken einen besonderen Protagonismus verleiht. Auch der Ton ist präzise ausgearbeitet: Die Aufnahme ist mit Vögeln und dem Seufzen des Windes erfüllt.
In der zweiten Einstellung, unmittelbar nach dem Titel, zeigt Koepp eine weite Landschaft, die er in einem Panoramablick einfängt. Es könnte interessant sein, sich vorzustellen, welche statische Aufnahme in unseren „Tagebüchern der Orte“ wir an diesem Ort drehen würden.
Wir werden nun die Nachtaufnahme kommentieren. Koepp hat einen Moment eines ganz besonderen Lichts gewählt: kurz nach der blauen Stunde, wenn die Nacht schnell voranschreitet, aber noch einige schwache Strahlen des Tageslichts übrig sind. Daraus ergibt sich eine besondere Farbpalette: Wir könnten versuchen, sie zu beschreiben oder sogar die Herausforderung annehmen, diesen außergewöhnlichen Himmel zu malen. Das Ergebnis wird fast ein abstraktes Gemälde sein! Auch hier nimmt der Himmel einen großen Teil des Bildausschnitts ein. Zwischen dem schwarzen Land und dem Himmel blinken winzige rote Lichter von Windturbinen, während ihr beunruhigendes Geräusch zusammen mit dem Quaken von Fröschen fast von irgendwo im Vordergrund zu kommen scheint.
Wenn wir diese Aufnahmen kommentieren, könnten wir uns fragen: Welche Position wählt der Filmemacher, um sie zu filmen? Wo befindet sich der Horizont und welchen Teil des Bildausschnitts nimmt der Himmel bzw. das Land ein? Zu welcher Zeit könnte sie gefilmt worden sein? Was vermittelt der Ton in den Aufnahmen? Könnten wir selbst ähnliche Aufnahmen filmen? Und wo?
Dilim Donmüyör – Meine Zunge Dreht Sich Nicht, von Serpil Turham (Germany, 2013)
Dilim Donmüyör – Meine Zunge Dreht Sich Nicht ist der erste Langfilm der in Berlin lebenden Filmemacherin.
Serpil Turhan erklärt, dass der Film „nach den Spuren sucht, die meine Familie in der Vergangenheit und in der Gegenwart hinterlassen hat. Anhand von Fragmenten aus dem Leben von drei Generationen erzählt der Film von der schmerzhaften Trennung der Familie durch die Migration, vom Schwinden der kurdischen Identität und von der Suche nach einer Heimat.“
Die Sequenz besteht aus drei Aufnahmen von Orten. Die ersten beiden zeigen eine karge und gebirgige Landschaft, die vom blauen Himmel mit voluminösen Wolken umschlossen wird. Die dritte Einstellung zeigt ein kleines Dorf, das in einem Tal zwischen diesen Bergen liegt. Auch hier gewinnen der Himmel und die subtile Bewegung der Wolken sowie die Geräusche eine große Bedeutung. Es könnte interessant sein, diese Aufnahmen mit der ersten Einstellung des Films Landstück zu vergleichen.
VERSCHIEDENE BILDLICHE UND FOTOGRAFISCHE REFERENZEN
Die Darstellung von Landschaften, Orten und Räumen hat unzählige Künstler*innen unterschiedlicher Stile und Zeiten inspiriert. Es wäre schön und interessant, Gemälde von Maler*innen zu betrachten, die sich ausgiebig mit dem Motiv der Wolken auseinandergesetzt haben: Wir könnten zum Beispiel Inspiration in den Kunstwerken von Gustave Courbet, John Constable oder Pierre-Henri de Valenciennes finden. Auch einige besondere Gemälde von Nicolas de Staël könnten unseren Blick auf die Landschaft und den Himmel bereichern.
Die Projekte der Fotograf*innen Bleda und Rosa sind ebenfalls sehr stimmungsvoll.
Und ohne Zweifel können wir uns auf eine wertvolle Reise durch die Gemälde und Fotografien von Fenstern begeben. Tatsächlich wurde das erste Bild in der Geschichte der Fotografie, aufgenommen von Nicéphore Niépce im Jahr 1827, durch ein Fenster gemacht, und seit diesem Moment haben sich eine Vielzahl anderer Referenzautoren, wie André Kertész, Alfred Stieglitz oder Paul Strand, mit diesem Motiv beschäftigt.
EINIGE BEISPIELE VON MOVING CINEMA WORKSHOPS
MIT HANDYS ODER KLEINER KAMERA
Gefilmt von Alea Gehrt, eine 11 jährige Schülerin von der Grundschule Schwanenteich (Neuenhagen bei Berlin, Brandenburg)
Gefilmt von Svetlana Valic, eine Schülerin vom Gimnazija Nova Gorica (Nova Gorica, Slovenien)
Gefilmt von Raúl Valls, ein 16 jähriger Schüler vomInstitut Bellvitge (L´Hospitalet de Llobregat, Katalonien)
Gefilmt von Rubén Fernández, ein Schüler vomCPI Uxío Novoneira (Pedrafita do Cebreiro, Galizien)
Gefilmt von Friedrich Böttcher, ein 11 jähriger Schüler von der Grundschule Brück (Brück, Brandenburg)
Filme
EINIGE FILME VON JUNGEN KURATOREN VERBINDET MIT DIESEM KIT
Llacunes, Carla Simón (Spanien, 2015)
News from Home, Chantal Akerman (Frankreich, Belgien, Bundesrepublik Deutschland, 1977)
Medena zemja / Honeyland, Ljubomir Stefanov and Tamara Kotevska (Nord Mazedonien, 2019)